Koalition orientierungslos im Kampf gegen Kinderpornographie

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Große Koalition als Geisterfahrer der Datenautobahn

Der Arbeitskreis gegen Internetsperren und Zensur (AK Zensur) warnt vor der bevorstehenden Einführung von Netzsperren durch die große Koalition.

 

Berlin, 11. Juni 2009. Bei dem umstrittenen Gesetz  "zur Bekämpfung der Kinderpornografie in Kommunikationsnetzen" stehen die Koalitionspartner nach Medienberichten kurz vor einer Einigung [1]. Familienministerin Ursula von der Leyen ließ durch ihren Staatskretär Gerd Hoofe mitteilen, sie erwarte eine Entscheidung Anfang der kommenden Woche. Martin Dörmann, stellvertretender wirtschaftspolitischer Sprecher der SPD-Fraktion, bestätigte zwischenzeitlich gegenüber Heise online [1], dass sich die große Koalition in entscheidenden Fragen einig sei.

Alvar Freude, Mitbegründer des AK Zensur, hierzu: "Die große Koalition treibt ihr Gesetzesvorhaben offenbar ungeachtet aller Einwendungen mit Vollgas voran. Sie ignoriert die in der öffentlichen Anhörung zum Gesetzentwurf geäußerten verfassungsrechtlichen Bedenken der Sachverständigen genauso wie die zwischenzeitlich mehr als 115.000 Unterzeichner der Petition gegen dieses Gesetz."

In der öffentlichen Anhörung im Wirtschaftsausschuss des Bundestages hatten Sachverständige einen "ganzen Strauß verfassungsrechtlicher Probleme" ausgemacht und unter anderem die fehlende Gesetzgebungskompetenz des Bundes gerügt [2]. Gegenüber Heise online mochte Dörmann diese Einwendungen nicht gelten lassen. Ein Gesetz sei notwendig, um die von Frau von der Leyen gegenüber einigen Providern durchgesetzten Verträge nachträglich in geordnete rechtliche Bahnen zu bringen. Hierzu Freude: "Es kann nicht Aufgabe des Gesetzgebers sein, illegale Verträge des Familienministeriums und einiger Provider nachträglich durch ein Gesetz zu legalisieren - insbesondere nicht, wenn das Gesetz selbst wiederum verfassungswidrig wäre."

 

Der AK Zensur wendet sich grundsätzlich dagegen, dass mit dem Gesetz eine Infrastruktur zur Zensur von Internet-Seiten geschaffen wird.

Der Arbeitskreis verweist hier auf eine Studie der Universität Cambridge. Betrügerische Webseiten, mit denen Kontodaten von Bankkunden ausgespäht werden sollen - so genannte "Phishing"-Seiten -, werden durchschnittlich binnen vier Stunden vom Netz genommen. Kinderpornographische Webseiten werden dagegen erst nach durchschnittlich 30 Tagen gelöscht, so das Ergebnis der Studie [3]. Grund für diesen dramatischen Unterschied ist offenbar, dass Banken im Kampf gegen betrügerische Webseiten wesentlich effizienter organisiert sind als nationale Polizeibehörden, wie z.B. das BKA, im Kampf gegen Kinderpornographie. Auch der AK Zensur hat mit unbürokratischen Hinweisen erfolgreich zahlreiche kinderpornographische Webseiten abschalten lassen.

Alvar Freude: "Es ist unsinnig und unnötig, im Internet eine Mauer gegen die Informations- und Kommunikationsfreiheit der Nutzer zu errichten, wenn es doch deutlich effektivere Maßnahmen zur Bekämpfung der Kinderpornographie als virtuelle Stoppschilder gibt." Die Koalition habe "im Kampf gegen Kinderpornographie jede Orientierung verloren", so Freude.

Der AK Zensur sieht insbesondere die konkrete Gefahr, dass die Sperren auf andere Inhalte ausgedehnt werden. Am vergangenen Wochenende hatte Wolfgang Bosbach, stellvertretender Vorsitzender der CDU/CSU-Fraktion, gegenüber der Berliner Zeitung erklärt, die CDU wolle sich "erstmal" nur mit dem Thema Kinderpornografie befassen, "damit die öffentliche Debatte nicht in eine Schieflage gerät". Der CDU-Bundestagsabgeordnete Thomas Strobl hat dagegen schon jetzt bei Abgeordnetenwatch gefordert, "die von den Bundesministern von der Leyen und Schäuble vorgeschlagene Sperrung von kinderpornographischen Seiten im Internet sollte mit Blick auf Killerspiele neu diskutiert werden" [4].

Alvar Freude abschließend: "Die große Koalition verhält sich wie ein ‘Geisterfahrer der Datenautobahn’. Es ist höchste Zeit, bei diesem Gesetzesvorhaben die Notbremse zu ziehen." Der AK Zensur appelliert an die SPD, dem Gesetzentwurf nicht zuzustimmen und sich nicht, so wörtlich, "als Claqueur bürgerrechtsfeindlicher Netzpolitik" herzugeben. Letzte Chance hierfür dürfte ein Initiativantrag [5] für den SPD-Parteitag am Sonntag sein. Darin wird die SPD-Bundestagsfraktion aufgefordert, das Gesetz in letzter Minute zu verhindern. Die E-Petition gegen Internet-Sperren [6] hat mittlerweile mehr als 115.000 Unterstützer.

 

Quellen:

[1] http://www.heise.de/newsticker/Koalition-in-entscheidenden-Punkten-ueber-Kinderporno-Sperren-einig--/meldung/140195

[2] http://www.heise.de/newsticker/Anhoerung-zu-Kinderporno-Sperren-ein-Strauss-verfassungsrechtlicher-Probleme--/meldung/139475

[3] http://ak-zensur.de/2009/06/bka-dienstweg.html

[4] http://www.abgeordnetenwatch.de/thomas_strobl-650-5740--f193477.html#q193477

[5] http://www.moenikes.de/index.php?nr=26083&menu=1

[6] https://epetitionen.bundestag.de/index.php?action=petition;sa=details;petition=3860

 

Aussender: Arbeitskreis gegen Internet-Sperren und Zensur (AK Zensur)
Web: http://ak-zensur.de/

Pressekontakt:
presse@ak-zensur.de
(0179) 13 46 47 1 (Alvar Freude)

 

Über den Arbeitskreis gegen Internet-Sperren (AK Zensur):

Der Arbeitskreis gegen Internetsperren und Zensur (AK Zensur) spricht sich gegen die von der Bundesregierung geplanten Internetsperren aus und fordert eine effektive Bekämpfung von Kindesmissbrauch anstatt einer Symbolpolitik, die nur das Wegschauen fördert, den Opfern nicht hilft und dafür eine Infrastruktur einrichtet, die Grundrechte der Allgemeinheit einschränkt. Er koordiniert die Arbeit der Sperrgegner, freut sich aber gleichzeitig über die vielen Aktivitäten, die dezentral on- und offline stattfinden.

Dem AK Zensur gehören unter anderem an: der Antispam e.V., der Chaos Computer Club, die Initiative falle-internet.de, der FoeBuD e.V, der Förderverein Informationstechnik und Gesellschaft e.V. (FITUG), das Forum InformatikerInnen für Frieden und gesellschaftliche Verantwortung e.V. (FIfF), die MissbrauchsOpfer gegen InternetSperren (MOGIS), netzpolitik.org, ODEM.org, Spreeblick, der Trotz Allem e.V. und zahlreiche Einzelpersonen.

 

Über Alvar Freude

Alvar Freude ist Mitglied im Vorstand des Fördervereins Informationstechnik und Gesellschaft e.V. (FITUG) und Mitgründer des Arbeitskreises gegen Internet-Sperren und Zensur.

Er ist Vater einer zweijährigen Tochter und beschäftigt sich seit über zehn Jahren intensiv mit dem Thema Internet-Sperren/Filter/Zensur. Seine Diplomarbeit insert_coin ist ein Internet-Filter-Experiment und wurde mit dem Internationalen Medienkunstpreis 2001 vom ZKM und SWR ausgezeichnet.

 

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