Warum ich gegen ACTA demonstriert habe

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Ich bin vergangene Woche in Hannover nicht gegen ACTA auf die Straße gegangen, weil ich durch die Vereinbarung unmittelbare rechtliche Folgen für dieses Land fürchte. Tatsächlich haben wir hier schon fast alles umgesetzt, was ACTA an rechtlichen Grausamkeiten enthält. Schon aus diesem Grund liegt die ketzerische Frage nahe: Warum muss eigentlich die EU ACTA unbedingt unterzeichnen, wenn sich dadurch ohnehin angeblich gar nichts ändert?

Aber es ist zu kurz gedacht, die Vereinbarung nur unter juristischen Aspekten zu sehen. Zumal dabei übersehen wird, dass durch die Regelungen zum Beispiel die Einführung von Filtersystemen durch Provider zumindest erheblich vereinfacht wird. Für mich ist ACTA aber vor allem ein gefährliches Symbol für eine falsche Entwicklung, die im Bereich des "geistigen Eigentums" bestehende Besitzsysteme zementiert und digitale Gräben weiter vertieft.

Ich bin, auch als Autor, nicht gegen das grundsätzliche System des Urheberrechts, welches den Schutz des eigentlichen Kreativen im Sinn hat. Schaut man sich aber die Entwicklung des Urheberrechts vor allem im letzten Jahrzehnt an, so verschiebt sich auf dramatische Weise der Fokus dieses Gesetzes weg vom eigentlichen Kreativen zugunsten der Rechteverwerter oder den versteinerten Konzepten alter Verwertungsmodelle wie der GEMA. Eindrucksvoll dafür stehen die Einschränkung der Privatkopie, das Verbot der Überwindung von Kopierschutzmaßnahmen, der zivilrechtliche Auskunftsanspruch gegenüber Providern, die Regelungen zu unbekannten Nutzungsarten oder die Regelungen zum Umgang mit digitalen Kopien im Bibliotheksbereich – um nur einige zu nennen. Und am Start für weitere Verschiebungen der Machtverhältnisse stehen "3-Strikes", neue Netzsperren und vor allem eine Vielzahl von europäischen Initiativen, die allesamt auf noch härtere Strafen, Behinderungen und Einschränkungen der Rechte der Zivilgesellschaft gerichtet sind.

Die Folgen dieser Entwicklung zeigen sich eindrucksvoll in einem Instrument wie dem zivilrechtlichen Auskunftsanspruch im Urheberrecht. Dieser ermöglicht Rechteverwertern einen Zugriff auf angebliche Urheberrechtsverletzer ohne den Umweg über Strafanzeigen. Statt dieses Instrument für die (dann allerdings kostenfreien) Warnmitteilungen zu nutzen, nach denen jetzt im Rahmen von Forderungen nach "2-Strikes" geschrien wird, entstand ein neues Geschäftsmodell in Form von Massenabmahnungen. Von den Einnahmen aus mindestens 500.000 kostenpflichtigen Abmahnungen der Musik-, Porno- und Filmindustrie gegenüber ihrer eigenen potentiellen Kundschaft allein in einem Jahr sehen aber die Kreativen, wenn überhaupt, nur einen überaus kleinen Anteil. Die Beute geht nahezu ausschließlich an Rechteverwerter und moralbefreite Anwälte. Im Gegenzug zu solchen Auswüchsen werden die Bürger mit einer Placebo-Regelung wie der "100-Euro-Deckelung" der Abmahnkosten im Urheberrechtsgesetz abgespeist. Klingt toll und war sicher ein PR-Erfolg, ist aber in der Praxis aufgrund zahlreicher Einschränkungen im Gesetzestext völlig wirkungslos.

All diese Änderungen dienen nicht den Kreativen, nicht den Bürgern, nicht der Wissenschaft, nicht den Schulen, nicht den Vereinen – und übrigens auch nicht der Industrie, schon gar nicht der immer wichtiger werdenden digitalen Wirtschaft. Tatsächlich dienen sie einzig und allein der Kaste der Rechteverwerter, die in den vergangenen 20 Jahren mehr mit guter Lobbyarbeit überzeugt hat als durch überzeugende Konzepte für das digitale Zeitalter.

Wer wirklich von ACTA profitiert, zeigt sich eindrucksvoll bei den Unterzeichnern eines Brandbriefs, den verschiedene Lobby-Organisationen gemeinsam verfasst haben. Dort finden sich, Überraschung, vor allem Verbände der Musik- und Filmindustrie. Richtig merkwürdig und keinesfalls mehr nachvollziehbar wird es, wenn die kleine Liste der Lobbyverbände durch ARD und ZDF verstärkt verstärkt wird.

Tatsächlich sehe ich sogar in einigen Bereichen eine Notwendigkeit, die Arbeit der Rechteinhaber auch durch gesetzliche Regelungen zu unterstützen und zu schützen. Auch hätte vermutlich kaum jemand etwas gegen ein Abkommen, das Maßnahmen gegen organisierte Produktpiraterie enthält. ACTA allerdings setzt 14-Jährige, die mit ihren Freunden auf dem Schulhof Musikstücke tauschen, auf eine Stufe mit millionenschweren höchst kriminellen Fälscherbanden [Ergänzung: Gemeint sind professionelle Produktfälschungen, nicht der Warez-Bereich].  Dazu werden unscharfe juristische Begriffe wie die "Handlung im gewerblichen Ausmaß" verwandt, die nichts mit gewerblichem Anbieten zu tun haben, sondern auch offensichtlich nichtkommerzielles Handeln umfassen.

Reformen des Urheberrechts dürfen nicht mehr einseitig zum Nutzen einzelner kleiner Gruppen erfolgen. Notwendig ist vielmehr ein fairer Ausgleich der Interessen auch der Rechteverwerter mit der Zivilgesellschaft, der nicht nur digitalen Wirtschaft und vor allem auch der Bürger. ACTA jedoch ist an keiner Stelle davon geprägt, einen solchen Ausgleich auch nur ansatzweise herbeiführen zu wollen. Es ist eine in einem zutiefst undemokratischen Geheimverfahren gezeugte und unerträglich schwammig formulierte Ausgeburt des Wunsches der Rechteverwerter, ihre Stellung in der Gesellschaft zu zementieren und die bereits in Europa erfolgreich eingeführten einseitigen Regelungen in die Welt und das Netz zu exportieren. Und machen wir uns nichts vor: Auch wenn ACTA die aktuellen Gesetze in Europa nicht verändert, so wird doch ein Zustand geschaffen, von dem ausgehend Reformen zu Gunsten der Gesellschaft nur noch schwer möglich sind.

Aus diesem Grund bin ich gegen das Symbol ACTA auf die Straße gegangen. Die Regelungen vor allem des Urheber-, aber auch des Marken- und Patentrechts dürfen nicht länger einseitig zugunsten mächtiger kleiner Gruppen verschoben werden, die sich im Rahmen eines digitalen Verteilungskampfes und zum Schutz überholter Geschäftsmodelle auch einer weitgehenden Herrschaft über das Internet bemächtigen wollen. Was wir brauchen, ist vielmehr ein gerechter Ausgleich zwischen den Interessen aller Betroffenen. Und dafür wird es höchste Zeit, bevor Regelungen wie ACTA und dessen noch hässlichere große Brüder wie IPRED, die uns die EU in nächster Zeit vorstellen wird, Fakten schaffen und nur noch verbrannte Erde hinterlassen.

Joerg Heidrich

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7 Kommentare

Insgesamt lesenswerter Artikel.

Bei einem Punkt musste ich jedoch stutzen:
"ACTA allerdings setzt 14-Jährige, die mit ihren Freunden auf dem Schulhof Musikstücke tauschen, auf eine Stufe mit millionenschweren höchst kriminellen Fälscherbanden"
Wer sollen diese "millionenschweren" "höchst kriminellen" Fälscherbanden sein?
Die Warez-Szene fälscht nicht. Sie entfernt Kopierschutzmaßnahmen und kopiert alles, was digital speicherbar ist (also Musik, Filme, Bücher, Comics etc.). Und das alles ohne jegliche Gewinnerzielungsabsicht, d.h. an keiner Stelle zahlt der eine Filesharer seinem Tauschpartner Geld für die Kopie.

Wie soll die Warez-Szene also "millionenschwer" sein, wenn sie exakt 0 Umsatz und/oder Gewinn mit dem Kopieren macht?

Hier scheint mir der Autor einem traditionellen, aber propagandistisch äußerst fruchtbaren Scheinargument der Rechteverwurster aufgesessen zu sein.
Dieses zieht nämlich besonders gut bei der wenig aufgeklärten, älteren Generation, bei denen man mit solchen falschen Anschuldigungen ("Aber die bösen Piraten machen Milliardengewinne auf Kosten so armer Firmchen wie Time Warner, BMG, und Disney!!")

Eben nicht.
Ein Filesharer in einer Tauschbörse wird genauso "reich" wie ein ehrenamtlich arbeitender Arzt oder ein Gitarrespieler, der an einem Lagerfeuer ein paar Songs spielt.

In der englischen Wikipedia habe ich eine hübsche Umschreibung für die Szene gefunden: unautorisierte Bibliothekare.

Wie soll die Warez-Szene also "millionenschwer" sein, wenn sie exakt 0 Umsatz und/oder Gewinn mit dem Kopieren macht?

Auch wenn in der erweiterten Warez-Szene Geld gemacht wird (über Dinger wie Megaupload etc) war dies vermutlich nicht gemeint.

Denn bei ACTA geht es ja um viel mehr, Produktfälschungen und so weiter. Also beispielsweise um die oft kommunizierten nachgebauten Kettensägen oder andere Maschinen – also Sachen, die nichts mit Immaterialgüterrecht sondern mit realen Gütern zu tun haben.

@Hamlet Danke fürs wertvolle Feedback.

Das ist in der Tat missverständlich geschrieben. Mit den "millionenschweren höchst kriminellen Fälscherbanden" meine ich professionelle Gruppen im Bereich von Marken- und Produktpiraterie, nicht im Internetbereich. Also etwa Fälscherbanden mit eigenen Textilproduktionsfabriken und vergleichbares.

Ich ändere das mal im Text.

Der Symbolaspekt wiegt sehr viel wenn man über den digitalen Tellerrand schaut. Die Verletzung demokratischer Traditionen ist ein Indiz für eine neue Sicht auf Demokratie von Seiten vieler Politiker. Bürgerbeteiligung erscheint plötzlich unerwünscht, jetzt, wo sie doch erst mit dem Internet wirklich möglich geworden ist.

Wer hat eigentlich den gesamten ACTA-Text je wirklich gelesen? Um den Einstieg zu vereinfachen haben wir uns die Mühe gemacht und den Text vorgelesen:
https://www.youtube.com/watch?v=r1dZY-SvbM0
Würde mich übers weiterteilen sehr freuen, so erreichen wir vielleicht mehr Leute für eine gute Sache – gegen ACTA.

Sehr hübsch vorgelesen! Obs das Verständnis erleichtert, lasse ich schon angesichts der sprachlichen "Qualität" des Textes mal dahingestellt.

Ich habe mich schon wundern müssen, dass man hier den Justiziar des heise-Verlags antrifft, wo doch in den Heiseforen Zensur keine Ausnahme sondern Alltag ist.

Die Moderation hetzt dort auch ganz unverholen mit ihren Sockenpuppenaccounts, beispielsweise gegen Ossis, oder Arbeitslose.
Jede Kritik wird gelöscht und der Kritiker wird mit Schreibsperre unter irrwitzigen Begründungen, belegt.

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