Für die politische Diskussion zur Novellierung des Jugendmedienschutz-Staatsvertrages (JMStV) haben wir eine Reihe von Forderungen zusammengestellt (aktualisierte Fassung). Diese bestehen aus einer Aufzählung netzpolitischer und medienpädagogischer Probleme am aktuellen Entwurf und einem konkreten kurzfristigen Forderungskatalog. Unten finden sich auch weitergehende Literaturhinweise.
Insgesamt ist der Jugendmedienschutz-Staatsvertrag (JMStV) aus netzpolitischer und medienpädagogischer Sicht verfehlt sowie wirtschaftspolitisch bedenklich. Internet-Projekten werden umfangreiche Hürden und Auflagen in den Weg gelegt, ohne dass diese für den Jugendschutz etwas erreichen. Dies ist insbesondere für kleine und nichtkommerzielle Anbieter existenzgefährdend.
Gleichzeitig besteht derzeit keine Schutzlücke, so dass einer erneuten gründlichen Überarbeitung des jetzigen Entwurfs bzw. einer grundsätzlichen Neuausrichtung des Jugendmedienschutzes in Deutschland nichts im Wege steht. Bereits jetzt hat Deutschland die strengsten Online-Jugendschutz-Regelungen aller demokratischen Staaten weltweit.
Wenn aber der jetzige JMStV-Entwurf verabschiedet und durchgesetzt wird, würde dies umgehend irreversible Schäden an einem sich entwickelnden kulturellen und sozialen Raum hinterlassen. Insbesondere privaten und kleinen Anbietern werden unverhältnismäßige Hürden in den Weg gelegt, hunderte Millionen an bestehenden Webseiten müssten auf ihre „Erziehungsbeeinträchtigung“ für 12-jährige Kinder durchsucht werden, während ausländische Anbieter unbehelligt bleiben.
Den JMStV gibt es seit 2003, zum 1. Januar 2011 soll eine novellierte Fassung in Kraft treten. Zwar waren schon bisher Teile der in der derzeitigen Diskussion kritisierten Vorschriften rudimentär vorhanden. Aber ein Gesetz muss, um wirksam zu sein, mehr erreichen als nur zu existieren: Es muss wahrgenommen, verstanden und durchgesetzt werden. An all dem mangelte es dem alten JMStV, und deswegen blieb er in weiten Bereichen ohne praktische Auswirkung. Diese erstreckte sich im Wesentlichen nur auf den Bereich schwer jugendgefährdender Inhalte. Dies ist der Grund, warum sich gerade an der aktuellen Novellierung der Protest entzündet: Die Regelungen erhalten nun mit einem Mal für viele Internet-Nutzer eine Bedeutung.
Probleme am JMStV und am Entwurf aus netzpolitischer Sicht
- Der gesamte Ansatz des JMStV ist verfehlt und sollte mittelfristig grundsätzlich überarbeitet werden. Er wird dem Kommunikationsmedium Internet nicht gerecht, greift die internationale Natur des Internets nicht auf und bringt den Jugendschutz nicht voran.
- Dem Entwurf mangelt es an ausreichender Normenklarheit. Er ist insgesamt sehr kompliziert, nicht eindeutig, zu unbestimmt und überaus interpretationsfähig.
- Viele Regelungen waren bisher schon vorhanden, konnten und wurden aber nicht durchgesetzt. Das Gesetz blieb in weiten Bereichen ohne praktische Auswirkung.
- Der aktuelle Entwurf bringt zwar einige Erleichterungen für große, kommerzielle Anbieter von Filmen und Online-Spielen, verschärft aber die Auflagen und Pflichten für Mikromedien, kleine (insbesondere private) Anbieter, Blogger und neue innovative Dienste im Semantischen Web.
- In der Diskussion wird gerne darauf verwiesen, dass die Maßnahmen freiwillig seien. Dies ist falsch. Wer ein Online-Projekt betreibt, das für 6- oder 12-jährige Kinder „erziehungsbeeinträchtigende“ Inhalte enthält, muss eine Maßnahme ergreifen – freiwillig ist nur die Wahl der Maßnahme. (§ 5 Abs. 1 und 2 i.V.m. § 11 Abs. 1 JMStV-E)
- Die neuen Regelungen haben zur Folge, dass Millionen von Webseiten-Betreibern, Bloggern, Anbieter von Online-Projekten und Web 2.0-Diensten alle ihre Inhalte, die teilweise seit 15 Jahren online sind, auf potenziell für 12-jährige Kinder „erziehungsbeeinträchtigende“ Inhalte durchforsten müssen.
- Kurzfristig sind die Probleme am Entwurf:
- Sperrverfügungen / Netzsperren: wurden bisher nicht angewandt, sind aber weiter im JMStV in Verbindung mit dem RStV vorgesehen. Das sorgt nur für unnötige Rechtsunsicherheit und Aufregung im Netz.
- Generelle Pflichten sollten sich grundsätzlich auf solche Inhaltsanbieter beschränken, die überwiegend jugendgefährdende Inhalte anbieten.
- Es gäbe de facto eine Kennzeichnungspflicht: Wer Inhalte anbietet, die als für 6 bzw. 12 jährige Kinder erziehungsbeeinträchtigend eingestuft sind, muss eine Maßnahme ergreifen. Dies läuft auf die Kennzeichnung hinaus, da die anderen Maßnahmen in vielen Fällen zu aufwendig oder teuer sind.
- Kennzeichnung bedeutet insbesondere für Mikromedien einen nicht zu leistenden Aufwand.
- Ähnliches gilt für Community-Plattformen. Beispielsweise hat die deutschsprachige Wikipedia über eine Million Einträge. Wer soll die alle kennzeichnen?
- Die Kennzeichnung mit starren Altersstufen wird einem weltweiten Medium nicht gerecht, da sich die Medieninhalte, die als kindgerecht angesehen werden, in vielen Kulturkreisen unterscheiden. Zum Beispiel in den USA herrschen im Vergleich zu Deutschland vollkommen andere Vorstellungen darüber, wieviel nackte Haut oder Gewalt einem 12-jährigen Kind zugemutet werden kann. Internationale Anbieter müssten ihre Inhalte also für jeden Kulturkreis, in dem eine dem geplanten JMStV ähnliche Gesetzgebung implementiert wird, eine seperate Kennzeichnung vornehmen, was den Aufwand noch einmal vervielfacht.
- Der aktuelle JMStV-Entwurf führt in §5 Abs. 3 eine faktische Prüf- und Überwachungspflicht für Anbieter von sozialen Netzwerken und Projekten, die eine Integration von nutzergenerierten Inhalten bieten, ein. Das betrifft dann auch die 4,5 Millionen Blogger Deutschlands, Administratoren von Diskussionsforen und so weiter.
- Die einzige praktikable Lösung ist für diese Personen, alle Inhalte ungesehen als „ab 18“ auszuzeichnen.
- Es wird im Entwurf scheinbar davon ausgegangen, dass nur Konzerne solche Internetprojekte betreiben, die Partizipationsmöglichkeiten bieten. Tatsächlich sind die technischen und finanziellen Hürden jedoch so gering, dass dies jeder Privatperson, auch Jugendlichen, möglich ist und dementsprechend bereits in die Gesellschaft bereichernder Weise genutzt wird.
- Der JMStV bedeutet einen wirtschaftlichen Nachteil für Anbieter mit Sitz in Deutschland, da er nur für inländische Anbieter durchsetzbar ist.
- Der kulturelle und soziale Erfolg des Internets basiert darauf, die Einstiegshürden so gering wie möglich zu gestalten, und erst bei konkreten Rechtsverstößen einzugreifen. Das Internet bietet eine ungeheure und noch nie da gewesene mediale Vielfalt, die durch die neuen Auflagen und Hürden in ihrer Entwicklung gehemmt wird.
- Der JMStV-E bedient die wirtschaftlichen Interessen der Institutionen der Freiwilligen Selbstkontrolle und großer Internet-Zugangs-Anbieter, die sich einen Wettbewerbsvorteil versprechen.
- Allgemein gilt: Selbstbewertung und Kennzeichnung sind Maßnahmen, die bereits mitte der 90er Jahre international ausführlich diskutiert und als unpraktikabel verworfen wurden:
- Selbstbewertung ist aufwendig, unhandlich und teuer: Anfang Mai gibt es über 13,6 Millionen .de-Domains, auf denen alleine Google knapp 600 Millionen Seiten findet. Wer soll das alles bewerten?
- Echtzeit-Kommunikation kann nicht bewertet werden
- Eine nationale Inselbildung wird vorangetrieben
- Kontroverse Sprache wird zensiert (z.B. AIDS-Aufklärung für Jugendliche in sozialen Brennpunkten muss deren Sprache nutzen)
- Kommerzielle und finanzstarke Anbieter werden bevorzugt, die Vielfalt wird eingeschränkt
- Die Landtage sollten Expertenanhörungen zu dem Thema JMStV veranstalten und dabei auch Experten aus den Bereichen Netzpolitik und Medienpädagogik sowie aus der Internet-Community einladen.
Probleme am Entwurf aus medienpädagogischer Sicht
- Fokus auf technische Filterprogramme, die in der Praxis die Arbeit behindern und die tatsächlichen Probleme nicht adressieren, ist aus medienpädagogischer Sicht abzulehnen. Technik kann Erziehung nicht ersetzen. Der Einsatz von Filterprogrammen wirkt wie eine Kapitulation vor einer neuen kulturellen Realität.
- Konzept des „Walled Garden“ verhindert freie Informationsaneignung und medienkompetente Sozialisation. Die durch die Kennzeichnungspflicht stattfindende Bevorzugung großer, kommerzieller Angebote, die häufig aus datenschutzrechtlicher Sicht problematisch sind, viel Werbung zeigen und größtenteils rein wirtschaftliche Interessen verfolgen, kann nicht Alternative zu einer bildenden Meinungsvielfalt sein. Neue, kommunikative und interaktive Web2.0-Angebote gehen verloren, bzw werden in die „Schmuddelecke“ verbannt.
- Die JMStV-Herangehensweise schränkt die demokratische Medienvielfalt, die Möglichkeit zum Lernen in einer globalen Gesellschaft und das Stärken von Kompetenzen bei Kindern und Jugendlichen ein. Medienkritik als Teil von Medienkompetenz braucht keine Regulierung sondern begleitete Auseinandersetzung.
- Die digitale Gesellschaft hat mehr Herausforderungen zu meistern als der klassische Jugendschutz – Bildungsherausforderungen verlangen neue Konzepte und medienpädagogische Strategien. Chancen dürfen nicht den Risiken geopfert werden.
- Indizierungen, Verbote und Filter überdecken die Notwendigkeit einer ethisch-moralischen Diskussion, die zu einem tragfähigen freien Kodex des Selbstschutzes führen würde.
- Die tatsächliche Verfügbarkeit von schwer jugendgefährdenden Inhalten wird nicht reduziert, es wird nur suggeriert, dass etwas getan wird.
- Die Bildungsarbeit mit Medien wird durch den JMStV stark eingeschränkt, Medienpädagogik wird zum Bewahrangebot. Selbstlernprozesse brauchen Kanten und Ecken.
- Es fehlen Konzepte der Qualifizierung von Pädagogen und Eltern um den Herausforderungen des Medien- und Kulturwandels gerecht zu werden. Schlüssel zur mündigen Gesellschaft sind begleitende Angebote für alle Altersphasen. Vorhängeschlösser versprechen trügerische Sicherheit, die zielführend nur im pädagogischen Aushandlungsprozess eröffnet werden kann.
(Kurzfristige) Forderungen:
- Sperrverfügungen/Netzsperren sind zu streichen. (§ 20 Abs. 4 JMStV i.V.m. § 59 Abs. 4 RStV)
- Altersstufen sollten nur nur bei solchen Inhalten gelten, die auch sonst üblicherweise altersgerecht differenziert werden (bereits bewertete Filme, (Online-) Spiele)
- Bei anderen Inhalten: Die Maßnahmen gegenüber Inhaltsanbietern sind auf offensichtlich schwer jugendgefährdende Inhalte zu beschränken. So wird dies auch seit Jahren praktiziert – in der Evaluation zum JMStV sind keine Hinweise darauf zu finden, dass dadurch eine Schutzlücke besteht. Daher sind weitergehende gesetzliche Regelungen abzulehnen.
- In Angeboten, die sich gezielt an unter 12-jährige Kinder richten, sollten keine Inhalte eingebunden werden dürfen, die für diese Altersstufe offensichtlich nicht geeignet sind.
- Der Gesetzgeber muss die Besonderheiten der jeweiligen Medien beachten.
- Das Internet ist ein weltweites Kommunikations-Medium, technische und finanzielle Hürden zum Publizieren sind gering. Partizipative Angebote sind einfach erstellbar. Rechtliche Auflagen dürfen dem nicht im Wege stehen.
- Auf die de facto Kennzeichnungspflicht aus § 5 Abs. 1 und 2 i.V.m. § 11 Abs. 1 und §24 Abs. 1 Nummer 4 JMStV-E sollte verzichtet werden.
- Die Haftungsregeln des Telemediengesetzes sind nicht indirekt auszuweiten.
- Es darf keine Verpflichtung geben, nutzergenerierte Inhalte zu überwachen. (§5 Abs. 3)
- Private Anbieter sollten von Verpflichtungen ausgenommen werden, die unangemessene Belastungen verursachen.
- Eine nationale Inselbildung und Territorialisirung des Internets ist zu vermeiden.
- Es muss der Stand der medienpädagogischen Forschung berücksichtigt werden.
- Die Entwickler und Hersteller von „Jugendschutzsystemen“ sollten weitgehende Freiheit bei der Art der Funktionalität und Implementation haben, damit auch hier Innovationen möglich sind. Es sind verschiedene Herangehensweisen denkbar, die Vorgabe eines bestimmten Weges verhindert alternative Lösungen.
- Die Landtage sollten Expertenanhörungen zu dem Thema JMStV veranstalten und dabei jeweils auch Experten aus den Bereichen Netzpolitik und Medienpädagogik sowie aus der Internet-Community einladen.
- Mittelfristig sollte das gesamte Konzept des JMStV unabhängig und ergebnisoffen wissenschaftlich evaluiert werden.
- Mittelfristig sind klare, einfache und verständliche Regelungen anzustreben.
Weitere Literatur
- Telemedicus: Was bringt der neue JMStV? und Neuigkeiten beim JMStV
- Kurt Beck verteidigt den neuen JMStV.
- Alvar Freude: Warum Kurt Beck falsch liegt
- Replik von Thomas Stadler (Internet-Law)
- Defizitäre «Defizitanalyse»? – Zur Evaluation des Jugendschutzsystems; Kritik an der Evaluation des JMStV durch das Hans-Bredow-Instituts von mehreren Wissenschaftlern.
- Hilfreicher Irrtum – Anmerkungen zur Kritik an der Evaluation des Jugendschutzes
- Stellungnahme des AK Zensur zum frühen Entwurf der JMStV-Novelle
- Prof. Dr. Jörg Müller-Lietzkow: Die „Killerspieldebatte“, Jugendmedienschutz und deren mögliche wirtschaftliche Konsequenzen
- Prof. Dr. habil. Kurt Starke: Pornografie und Jugend – Jugend und Pornografie
- Stellungnahmen verschiedener Organisationen, Interessensgruppen und Lobbyisten zum JMStV-E vom Dezember
- Abschied vom pädagogischen Schonraum?
- Kinderseiten im Internet – „gläserne Kids“?
Sehr gute Zusammenstellung!
... und ein kleiner Hinweis: "Viele Regelungen waren bisher schon vorhanden, konnten und wurden aber nicht durchgesetzt."
-> da holpert es sprachlich, vielleicht so anpassen: "Viele Regelungen waren bisher schon vorhanden, wurden aber nicht durchgesetzt bzw. konnten nicht umgesetzt werden."