Zwei Jahre gesperrt, in 30 Minuten gelöscht – desaströse Bilanz der Sperrpolitik
Pressemeldung des Arbeitskreises gegen Internet-Sperren und Zensur zur Analyse aktuell in Dänemark gesperrter Webseiten:
Internetsperren werden als angeblich wirksame Lösung gegen die Verbreitung von Kinderpornografie angepriesen. Seit Jahren setzen Länder wie Großbritannien, Schweden und Dänemark dieses Mittel ein. Doch ein Praxistest des Arbeitskreises gegen Internetsperren und Zensur (AK Zensur) in Zusammenarbeit mit anderen europäischen Bürgerrechtsorganisationen zeigt: Statt Missbrauch zu bekämpfen, dienen die Internetsperren in der Praxis dazu, Versäumnisse der Politik und der Polizeibehörden zu übertünchen. Webseiten bleiben zum Teil jahrelang auf den Sperrlisten, obwohl sie bereits gelöscht sind oder einfach zu löschen wären.
Warum das so ist und wie gegen die Täter vorgegangen werden kann, zeigt eine aktuelle Analyse verschiedener Sperrlisten aus Schweden und Dänemark durch den AK Zensur. Dabei wurden 167 Einträge von einem speziell entwickelten Programm als repräsentatives Beispiel für derzeit in Dänemark blockierte Webseiten herausgesucht, kategorisiert und nach Herkunftsländern geordnet. „Das Ergebnis ist eine Blamage für die Strafverfolgungsbehörden“, so Alvar Freude vom AK Zensur: „Von diesen 167 Einträgen enthielten lediglich drei Seiten tatsächlich Inhalte, die als Kinderpornografie eingestuft werden können.“ Zwei dieser drei Seiten waren schon seit 2008 auf der dänischen Liste verzeichnet und stehen bzw. standen zudem in Norwegen, Finnland und Schweden auf der Sperrliste. Obwohl diese Einträge in mehreren Ländern seit zwei Jahren bekannt waren, gab es offensichtlich keine Versuche von Seiten der Strafverfolgungsbehörden, diese verbotenen Inhalte aus dem Netz zu entfernen.
Dies ist umso erstaunlicher, als es dem AK Zensur gelang, mittels einfacher E-Mails zwei aus den USA verbreitete Webseiten auch am Wochenende (Freitag Nacht) binnen 30 Minuten entfernen zu lassen. Eine dritte Webseite wurde am Dienstag innerhalb von drei Stunden nach Meldung von der indischen Domain-Vergabestelle abgeschaltet. Die Inhalte lagen auf einem Server in den Niederlanden. „Die Entfernung dieser menschenverachtenden Inhalte und die Strafverfolgung gegen die Täter muss oberste Priorität haben. Netzsperren erreichen aber genau das Gegenteil“, so Alvar Freude, der die Aktion durchgeführt hat.
Auch die Analyse der restlichen Inhalte der skandinavischen Sperrliste zeigte erneut die Wirkungslosigkeit dieses Instruments. So waren weit über die Hälfte der dort verzeichneten Seiten bereits gelöscht – die Einträge bestehen aber nach wie vor. Es scheint den Ermittlern nach dem Motto „fire & forget“ nur um den Eintrag auf der Liste zu gehen, nicht aber um eine wirksame Verfolgung der Taten und Täter oder um die verfassungsrechtlich gebotene Tilgung von nicht (mehr) relevanten Adressen aus der Sperrliste.
„Dass dieses Mittel der Sperren nun auch auf der EU-Ebene als Allheilmittel angepriesen wird, ist skandalös“, so Vera Bunse vom AK Zensur. So versucht die EU-Kommissarin Cecilia Malmström derzeit mit einer EU-Richtlinie Fakten zu schaffen - und die Internet-Sperrlisten für alle europäischen Länder zur Pflicht zu machen. Fragen nach den bisherigen Erfolgen der Maßnahme werden abgebügelt. Vera Bunse weiter: „Offenbar gilt nicht nur beim Bundeskriminalamt (BKA), sondern auch in der Politik das Motto 'Verstecken statt Verfolgen' “.
„Netzsperren bedeuten Wegsehen statt Handeln“, fasst Alvar Freude die Diskussion zusammen. „Es ist an der Zeit, dass die Politik ihr Handeln sinnvoll ausrichtet: Sie sollte sich auf den Grundsatz 'Löschen und Täter verfolgen statt Inhalte verstecken und Täter schützen' einigen.“
Die Analyse: analysis-blacklists.pdf (Englisch, 487 kB)
Hintergrundinformationen und Materialien:
Warum die Blockade von Web-Seiten im Kampf gegen „Kinderpornografie“ im Internet der falsche Weg ist
Sexualisierte Gewalt gehört zum Schlimmsten, was einem Kind angetan werden kann. Gerade deswegen ist es wichtig, sich auf wirksame und verhältnismäßige Maßnahmen im Kampf gegen die Bilder und Videos des Missbrauchs (oft verharmlosend „Kinderpornografie“ genannt) zu konzentrieren. Blockaden im Internet, wie sie die Pläne von Cecilia Malmström oder das Zugangserschwerungsgesetz vorsehen, helfen nicht, das Ziel zu erreichen. Sie sind selbst als Ultima Ratio kontraproduktiv:
Frühwarnsystem
Betreiber einschlägiger Angebote können automatisiert prüfen, ob ihre Webseiten auf einer Sperrliste stehen, und somit feststellen, ob sie im Fokus der Ermittler stehen. Internet-Sperren sind daher ein Frühwarnsystem für Kriminelle.
http://ak-zensur.de/Netzsperren-Fruehwarnsystem.png
Die Sperrliste wird nicht geheim bleiben
Wer Access-Blocking einsetzt, publiziert damit quasi die Liste der betroffenen Seiten: Sobald Webseiten blockiert werden, lässt sich einfach abfragen, ob eine bestimmte Seite auf der Liste steht. Dadurch ist es mit relativ geringem Aufwand möglich, die Sperrliste herauszufinden. Dies ist keine Theorie, sondern wurde bereits praktiziert. Auch Pädophile könnten daher die Sperren nutzen, um entsprechende Inhalte zu finden.
Illegale Inhalte werden nicht in „failed states“ versteckt
Oft wird auch damit argumentiert, die Mehrheit der „kinderpornografischen“ Inhalte werde aus Staaten verbreitet, in denen eine Verfolgung der Täter nicht möglich sei. Dies ist erwiesenermaßen falsch. Alle Analysen zeigen: Die Mehrheit der Webseiten auf den bekannten Sperrlisten kommt aus den USA und Westeuropa inklusive Deutschland. Die häufigsten Server-Standorte laut BKA-Analyse einer Dänischen Sperrliste:
USA: 1148; Deutschland: 199; Niederlande: 79; Kanada: 57
Auf keiner Sperrliste anderer Länder befindet sich auch nur eine Webseite, die aus einem der sogenannten "Failed States" verbreitet wird, wie dies vom BKA öffentlich immer wieder behauptet wurde.
http://ak-zensur.de/download/Karte-Sperrlisten--AU-FI-CH--A4.pdf
http://blog.odem.org/2010/01/30/bka-antwort-spd-bulmahn.pdf
Löschen illegaler Inhalte ist schnell möglich
Eine Studie der Universität Cambridge zeigt, dass Banken es im Durchschnitt innerhalb von vier bis acht Stunden schaffen, Betrugs-Webseiten (sogenannte Phishing-Websites) zu löschen – weltweit. Wenn dies bei simplen Betrugs-Webseiten möglich ist, warum schaffen die Ermittlungsbehörden dies nicht bei den weltweit nicht nur verbotenen, sondern geächteten Darstellungen sexuellen Missbrauchs von Kindern?
http://www.cl.cam.ac.uk/%7Ernc1/takedown.pdf
Experiment zeigt: Löschen funktioniert
Schon vor der aktuellen Analyse hat ein Experiment von Alvar Freude vom AK Zensur hat gezeigt: Mit einer einfachen Nachricht per E-Mail an die Abuse-Abteilungen der betroffenen Hosting-Provider war es möglich, innerhalb von zwölf Stunden 61 Webseiten der einschlägigen Sperrlisten abzuschalten. Warum setzt man die Ermittler nicht dazu ein, sondern vergeudet deren Arbeitszeit mit der Aufstellung und Pflege von Sperrlisten?
http://ak-zensur.de/2009/05/loeschen-funktioniert.html
Rechtfertigungsversuche Chinas und Umgehbarkeit
Internet-Sperren etablieren eine Infrastruktur, die für beliebige Inhalte genutzt werden kann. Dies kennen wir sonst nur von autoritären Staaten wie China, dem Iran oder Saudi-Arabien. Diese Länder berufen sich schon jetzt zur Rechtfertigung ihrer Internet-Zensur auf europäische Staaten, die Internet-Sperren anwenden.
Zudem: Sperren sind leicht zu umgehen. Wer es schafft, die Inhalte zu finden, hat es auch leicht, jegliche Art von Sperren zu umgehen. Denn die Inhalte verbleiben im Netz und werden nur ein wenig verdeckt!
http://www.lawblog.de/index.php/archives/2009/03/27/internetsperre-umgehen-in-27-sekunden/
http://www.ccc.de/censorship/dns-howto/
Fehlende Zweckbindung
Die Erfahrung mit ähnlichen Sperrsystemen in anderen Ländern zeigt, dass die öffentlich genannten Ziele damit nicht erreicht werden können. In allen Ländern mit bestehenden Sperrsystemen sind aufgrund fehlerhafter Sperrlisten auch Webseiten betroffen, die keine illegalen Inhalte verbreiten. In Australien landete die Webseite eines australischen Zahnarztes auf der Sperrliste, in Dänemark eine aus Deutschland betriebene islamistische Webseite, in Finnland ein finnischer Zensurgegner, in Italien werden Glücksspiel-Webseiten blockiert.
http://www.focus.de/digital/internet/internet-wirksamkeit-von-kinderporno-sperrungen-umstritten_aid_384900.html
http://www.heise.de/newsticker/meldung/Australische-Internet-Sperrliste-in-der-Debatte-208289.html
http://www.heise.de/ct/artikel/Verschleierungstaktik-291986.html
http://blog.odem.org/2009/05/islam-website-aus-deutschland-auf-sperr-liste.html
https://scusiblog.org/?p=1728
Kein großer kommerzieller Markt
Eine aktuelle Studie der „European Financial Coalition“ (EFC) bestätigt frühere Analysen, dass es keinen umfangreichen kommerziellen Markt gibt:
Und selbst diese Wortwahl scheint noch übertrieben, denn „kommerzielle“ Anbieter von Darstellungen sexuellen Missbrauchs wurden bei dieser Studie gar nicht gefunden:
http://blog.fefe.de/?ts=b25c1c55
Informationsfreiheit vs. Menschenwürde?
Die Verbreitung von „Kinderpornografie“ ist ein weltweit geächtetes Verbrechen, das man weltweit bekämpfen kann. Websites sind nur ein winziger Teil des Gesamtproblems. Echte Verbrechensbekämpfung ist freilich mehr als das Aufstellen von Stoppschildern, die zudem kein echtes Hindernis darstellen. Der Grundsatz muss heißen: „Löschen und Täter verfolgen statt Inhalte verstecken und Täter schützen“.
(Veröffentlichung honorarfrei, Belegexemplar erbeten)
Aussender:
Arbeitskreis gegen Internet-Sperren und Zensur (AK Zensur)
http://ak-zensur.de/
Pressekontakt:
presse@ak-zensur.de
Alvar Freude, Tel. (0179) 13 46 47 1 (bitte NICHT in andere Blogs übernehmen, sondern hierher verweisen!)
Über den Arbeitskreis gegen Internet-Sperren (AK Zensur):
Dem AK Zensur gehören unter anderem an, in alphabetischer Reihenfolge: der Antispam e.V., die Initiative falle-internet.de, der FoeBuD e.V, der Förderverein Informationstechnik und Gesellschaft e.V. (FITUG), das Forum InformatikerInnen für Frieden und gesellschaftliche Verantwortung e.V. (FIfF), netzpolitik.org, ODEM.org, Spreeblick, der Trotz Allem e.V. und zahlreiche Einzelpersonen.
Über Alvar Freude
Alvar Freude ist Mitglied im Vorstand des Fördervereins Informationstechnik und Gesellschaft e.V. (FITUG), Mitgründer des Arbeitskreises gegen Internet-Sperren und Zensur und wurde als Sachverständiger in die Enquête-Kommission "Internet und digitale Gesellschaft" des Deutschen Bundestages berufen. Er ist Vater einer dreijährigen Tochter und beschäftigt sich seit über zehn Jahren intensiv mit dem Thema Internet-Sperren/Filter/Zensur. Seine Diplomarbeit insert_coin ist ein Internet-Filter-Experiment und wurde mit dem Internationalen Medienkunstpreis 2001 vom ZKM und SWR ausgezeichnet.
Das entlarvt den Ziercke und seine Truppe schon wieder als Lügner. Wann werden die endlich abgesetzt?
Diese Meldung ist nun durch zahlreiche Blogs und Internetseiten verbreitet worden.
Und man darf bestimmt auch davon ausgehen, dass der Inhalt verantwortliche Kreise erreicht. Also Politik, Behörden und vielleicht sogar den Adel. ;)
Mich würde mal interessieren, ob dieser Arbeitskreis hier irgendwelche Reaktionen von den Verantwortlichen bekommt und den großen Medien bekommt.
Vielleicht könnt ihr darüber ja mal einen Text irgendwann veröffentlichen?
Im Grunde interessiert mich einfach wie damit umgegangen wird. Hier die Fakten und dort falsche Behauptungen, Fehler und Versäumnisse.
Wird irgend jemand überhaupt damit richtig konfrontiert und Konsequenzen eingeleitet?
Wenn nicht, dann kann ich doch zu 100% davon ausgehen, dass es Politik, Behörden und Adel vollkommen scheiß egal ist, dass solche Seiten Jahrelang im Netz bleiben, oder?
Und damit das zukünftig nicht mehr möglich wird:
http://www.heise.de/newsticker/meldung/BKA-will-Besitz-und-Verbreitung-von-Kinderporno-Links-kriminalisieren-1098392.html
Zudem dürfte da die Stopp-Schildthematik auch noch interessant werden.....da mit dem strafbaren "Besitz" dann auch kein Vorsatz zum Aufruf solch eines Links mehr nachgewiesen werden muß.
bombjack
Danke, Alvar und Freunde. Der gerechte Kampf gegen Zensur sowie das Gestrüpp aus Lügen und Verunsicherung gehört belohnt. Spende von 200€ ist jetzt auf dem Weg.
Es ist traurig, dass die Politik dieser Thematik so viel Ignoranz und Unehrlichkeit entgegenbringt.
Politikverdrossen? Ja! Aber es gibt ja Alternativen...